Ich kann das.

“Nicht nichts ohne dich, aber weniger, viel weniger für mich.”

Nicht nichts” von AnnenMayKantereit

Ein Märchen.

Es war einmal ein blasses junges Mädchen. Sie kam aus einem belasteten Elternhaus, ihr Vater war psychisch erkrankt, ihre Mutter wusste sich nicht anders zu helfen und ließ das Mädchen zwischendurch immer mal wieder mit dieser Aufgabe alleine. Es gab ein sehr dunkles Jahr, in dem diese Situation eskalierte. Dennoch wurde das Mädchen seiner Aufgabe gerecht, suchte aber sein Heil neben ihrer Beziehung zu ihrem Partner im BDSM, es ging ihr das erste mal seit langer Zeit wieder besser. Ihre Eltern erfuhren allerdings davon, sie wurden sehr wütend und begegneten dem Mädchen ab diesem Moment mit Hass, Abscheu und Unverständnis. Dem Mädchen blieb nur die Flucht aus ihrer brennenden Welt, sie trennte sich in diesem Zuge auch von ihrem Partner und floh gemeinsam mit einem Freund, dem Schwarzen Ritter, in ihre eigene Welt.

Es war eine kleine Welt, aber es war ihre. Sie orientierte sich sehr an ihrem Schwarzen Ritter und an seiner Seite lernte sie andere Teile der Welt kennen und wurde auch mutig genug, neues auszuprobieren. Sie wurde immer gesünder, wurde dunkler, passte sich ihrem Ritter farblich an. Dabei sahen sie nicht, dass seine Farben zu verblassen begannen. Die gemeinsame Welt drehte sich so sehr um das Mädchen, um ihren Weg, dass für ihn zu wenig Raum blieb, zu wenig Luft zum Atmen. Er begann sich zu verlieren. Sie begann ihn zu verlieren.

Da traf er auf eine andere junge Frau, sie verliebten sich ineinander. Das Mädchen sah eine Chance, vielleicht könnte sich ihr Ritter so erholen, seine kräftige Farbe zurück gewinnen, und so bildeten sie eine Dreiergruppe. Vielleicht kam ja so das Leben in ihre kleine Welt zurück. Sie bemühte sich, nahm sich zurück, versuchte ihrem Ritter all dem Raum zu geben, den er vorher nicht bekommen hatte.
Aber nein, das Ende kam nur langsamer. Es dauerte, aber schlussendlich verließ der Ritter sie um sich wieder neu zu finden. Das Mädchen blieb zurück, sprachlos, ging mit dem Ritter doch auch ihre Welt.

Nach einigen Monaten verließ sie das Land, sie brauchte Abstand. Die räumliche Nähe funktionierte nicht für sie. Doch es dauerte weitere Monate, bis sie sich öffnete, bis sie bereit war, sich eine eigene neue Welt zu erschaffen.
Sie musste erst lernen, sich selbst zu vertrauen, ihren eigenen Vorlieben und Stärken. Musste überwinden, dass sie sich ohne ihn so nichts fühlte, musste die Hülle, die sie noch war, erst füllen. Sie orientierte sich dabei erst sehr an den ihr bekannten Dingen, doch fragte sie sich bei jedem Buch, bei jedem Film, bei jedem Musikstück: “Mag ich das wirklich? Oder glaube ich nur das zu mögen, weil er das mochte?” Sie musste viel ausprobieren und erfühlen.
So ging sie langsam von alten Wegen auf neue Wege, schuf selbst neue Pfade und suchte ihren eigenen Weg.

Auf diesen Wegen traf sie allerlei Begleiter, mal für kurze Wegstücke, mal für längere Zeit. Bis sie auf eine junge Frau traf. Diese nahm sie am Arm, sie gingen ein Stück und wurden Freundinnen. Sie erkundeten gemeinsam neue Länder, lernten sich dabei besser kennen und gingen nicht mehr Arm in Arm, sondern Hand in Hand. Sie beschlossen, einen gemeinsamen Weg zu gehen, berieten sich an den Abzweigen, gingen manchmal doch lieber vom Weg ab links durchs Gebüsch, um dort einen Pfad zu entdecken. Sie kamen durch kleine Orte und fanden schließlich einen kleinen Hof, auf dem sie leben konnten, und bis heute leben. Sie haben viele Freunde, die auf ihren Hof kommen, und besuchen ihre Freunde auf deren Höfen. Manchmal ziehen sie los, erleben Abenteuer in düsteren Dungeons, entdecken neue Spielplätze, manchmal bleiben sie zuhause, bei britischen Backsendungen und kuscheln sich in die Couch. Es ist ein schönes, behütetes Leben in einer spannenden, bunten Welt, die die beiden gemeinsam entdecken wollen. Aus dem unsicheren Mädchen ist eine dunkel glänzende junge Frau geworden, an ihrer Seite ein schwarzbuntes, liebevolles Wesen.
Auf dem Hof finden mittlerweile auch immer wieder andere Wesen Platz, liebevolle Menschen. Mal sind es gute Freunde, mal bilden sie gemeinsam eine engere Gemeinschaft, bieten sich gegenseitig Halt und Wärme, eine Heimat.

Nur manchmal blitzt das junge Mädchen noch durch, unsicher in ihrem Sein. Diese anderen Menschen, wie nah darf sie diese an sich heran lassen? Woher weiß sie, dass es wirklich ihre Freunde sind, die nur Gutes im Sinn haben? Und woher weiß sie, dass ihre Freundin nicht eines Tages auch geht? Ist es klug, sich auf dem Hof einzurichten? Ist es eventuell klüger, sich wieder auf den Weg zu machen, alleine, aber freiwillig und selbstbestimmt und nicht zu warten, bis man ihr wieder ihre Welt gewaltsam entreißt, und alleine zurück lässt, leer, nur als Hülle? Je näher sie sich kommen, je größer die Gefühle werden, desto größer ist ihre Angst vor dem Verlust. Und manchmal überwältigt sie diese Angst, lässt sie nicht mehr schlafen. Sie möchte mit ihren Menschen reden, fürchtet sich aber vor den Blicken, dem Gefühl, mit ihrer Angst zu stören, damit vielleicht erst dafür zu sorgen, dass ihre Menschen, ihre Heimat lieber doch ohne sie weiterziehen. Und dann sitzt sie wieder da, in der leeren Hülle des kleinen Mädchens, in ihrem Herzen das Echo der ungesagten Dinge. Ich mag dich und ich habe Angst, dass ich dich zu viel mag. Dass du mich nicht magst, nicht genug, um mich zu ertragen. Halt mich bitte fest und sag mir, dass du hier bleibst, hier an meiner Hand.

Es dauert dann immer einige Zeit, bis die junge Frau das Mädchen in sich trösten kann. Sie der Kleinen vermitteln kann, dass sie nicht mehr das Kind ist, dass ihr Leben anders aussieht, als zu der Zeit mit dem Schwarzen Ritter. Dass sie nicht mehr unterwegs sind, sie eine Heimat haben, gemeinsam und voller Liebe. Und dass ihnen diese Schatten aus der Vergangenheit nichts anhaben können.

Dieses Märchen hat noch keine Ende. Sie leben auf dem Hof, mit ihren Freunden, ihrer Heimat, und auch den Schatten. Meistens sehr glücklich, manchmal auch traurig.


Jeder von uns wirft Schatten, auch jeder auf diesem Hof.
Dies sind meine Schatten. Ich stelle sie meinen Menschen vor, ich zeige sie ihnen, erzähle davon, das lässt sie schon mal kleiner wirken. Aber ich werde sie nicht los und kann schlussendlich nur versuchen ins Helle zu gehen, damit die Schatten hinter mir liegen.

“Und selbst wenn mich mein Fluchtreflex einholt
Und auch dich verletzt, ich glaub’ an uns
Ich kann das!”

– “Fluchtreflex” von Lotte

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Aftermath:
Es hat mich heute sehr viel Kraft gekostet, diese Geschichte aufzuschreiben. Sie wirkt so klein, hier in Buchstaben gegossen, aber sie verfolgt mich und kostet mich manchmal wahnsinnig viel Energie. Gerade die letzte Tage kam ich nicht aus dem emotionalen Strudel der Unsicherheit. Dem Schreiben vorausgegangen ist heute morgen eine längere Unterhaltung mit dem Schwarzen Ritter, was mir sehr gut tat. Vielleicht kam daher der Schwung, die Gefühle heute mal in vorzeigbare Form zu gießen, auch für mich. Und vielleicht hilft mir das in Form gegossene bei den nächsten Strudeln =)

Ein Gedanke zu „Ich kann das.“

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