Dum spiro timeo

Ich habe Angst. Immer.
Ich glaube nicht, dass ich diese Angst jemals loswerden werde.
Aber wisst ihr was? Um mein Leben [soweit möglich] nach meinen Wünschen zu gestalten muss ich diese Gefühle nicht loswerden, ich muss mit ihnen leben können.

Ich habe in meiner Kindheit schon gelernt, dass sich Gefühle körperlich auf mich auswirken können. Heute weiß ich, dass ich mich, wenn ich Angst habe, verspanne und dieses Verspannungen zu Schmerzen führen. Als Jugendliche und junge Erwachsene hatte ich einen Schmerzmittelverbrauch, der ziemlich ungesund gewesen sein dürfte, und es hat viele Jahre gedauert, bis ich das eigentliche System dahinter verstanden habe.
Der Kern meiner Angst ist das Thema emotionale Verletzung. Ich habe immer die Sorge, zu viel zu fühlen, zu wenig, generell falsch. Ich habe Angst, dass ich, wenn ich diese Sorgen nicht äußere, innerlich daran zerbreche, ich mich von meinen Partner:innen entferne, mich aus meinen Beziehungen immer weiter zurückziehe. Ich habe Angst, dass ich, wenn ich über diese Ängste rede, zu ungesund, zu krank, zu seltsam, zu kaputt wirke, und meine Menschen irgendwann die Wahrheit hinter ihrer rosaroten Brille sehen, die emotionale Ruine, in der ich augenscheinlich lebe, weil andere Menschen so viel gesünder, normaler, stabiler wirken. Ich habe Angst, andere durch meine Ängste zu verletzen. Ich habe Angst, dass es diese Ängste sind, die mich oder mein Umfeld irgendwann zerstören. Angst war und ist auch der Grund, warum ich das Polythema noch immer schwierig finde. Mittlerweile lebe ich in einem wundervollen, sich entwickelnden Polykül, aber ich weiß eben auch, dass Beziehungen die reinsten Minenfelder sein können, Liebe in ihrem Gefahrenpotenzial einem Atomsprengkopf gleicht und es sich trotzdem meistens mit dem Polykül doch ganz schön im Bikini-Atoll lebt. Aber an meinen schlechten Tagen verfluche ich immer wieder, nicht doch das Eremitinnenleben gewählt zu haben, der Fluchtinstinkt kickt dann schon sehr, sehr hart. Schweigen, leiden, irgendwann weggehen ist so viel einfacher, zumindest im Vergleich zu der Angst in dem Moment des sich Öffnens. Aber Flüchten, sich Abkapseln nährt die Ängste und diese fressen sich dann immer tiefer, sie untergraben Positives, höhlen gute Gefühle aus, füllen sie mit Dunkelheit, und früher oder später zerfrisst diese Dunkelheit die Hülle und flutet einem den Raum hinter den Augen. Flucht ist also keine Option, einfach aushalten auch nicht. Ich kenne diese Abwärtsspiralen aus Erfahrung und habe [glücklicherweise + nach sehr viel Arbeit] ausreichend Kraft und Stand, mich in vielen Momenten bewusst mit diesen Ängsten auseinanderzusetzen.

Ich fühle (wie klein dieses Wort ist Angesichts der Flut an Emotionen, die sich dahinter gerne verbergen, 5 kleine Buchstaben, Universen an Schönheit und Horror). Je nach Intensität warte ich, bis ich wieder klarer denken, tiefer atmen kann. Ich trete von diesem Fühlen ein Stück zurück, und sehe mir die Angst an, genau diese Angst, in diesen Momenten. Ich hinterfrage. Ich versuche zu verstehen, was ich da fühle, was eigentlich hinter der Fassade “Angst” steckt, warum ich so fühle, wo die Knöpfe liegen, die dieses Gefühl machen, wieso sie in der Vergangenheit so verkabelt wurden, wie sie es nun sind, und was dieses Gefühl hier und heute mit mir macht. Wovor habe ich Angst? Wovor genau? Warum? Und: Was passiert denn eigentlich, wenn das eintritt, wovor ich Angst habe? Was sind tatsächlich die Konsequenzen, von meinem emotionalem Schmerz abgesehen? [Benutze ich diesen Gedankengang auch, wenn ich mich im Angesicht körperlicher Schmerzen auffangen muss? Yes. Stichwort Viehtreiber.]

Und dann versuche ich darüber zu reden. Sprechenden Menschen kann geholfen werden. Es brauchte ein gewisses Maß an Erfahrung, an Selbstvertrauen, Selbsterkenntnis, Selbstsicherheit, auch die richtigen Menschen um mich herum, die richtigen Gesprächs-, Sparrings- und Beziehungspartner, aber ich kann meinen Ängsten mittlerweile entgegentreten, sie an- und aussprechen. Sie sind dadurch nicht verschwunden, im Gegenteil, sie sind in gewisser Weise präsenter, weil ich offen damit umgehe, mich ein Stück weit mit ihnen versöhne, weil sie eben immer da sein werden, als ein Teil von mir. Und das ist okay.

Und es ist auch okay für meine Partner:innen. Gerade in meinem Polykül gehe ich mit meinen Unsicherheiten sehr offen um. Auch das kostet Kraft, hier ist die Angst, dass meine Ängste unser Konstrukt destabilisieren, sie sich unsicher fühlen mit einer Partnerin wie mir. Wenn jemand eine immer in sich ruhende, immer selbstsichere Partnerin, stets einen Fels in der Brandung sucht ist dieser Mensch bei mir falsch. Ich schwanke manchmal, zögere vor dem ersten, zweiten Schritt, brauche einen Moment um mich zu sammeln, kämpfe mich dann aber vorwärts, möchte meine Zeit, meine Chancen nutzen, meine Menschen lieben. Fühle mich in mir doch sicher genug, das Risiko einzugehen, mein Herz zu öffnen, es weit zu öffnen und all die Gefühle auszuhalten. Fortes fortuna adiuvat. Und: Everyone’s afraid, but that’s no excuse.

Soundtrack: Mind.in.a.box – Fear

Ein Gedanke zu „Dum spiro timeo“

  1. Wer die Angst nicht kennt, braucht keinen Mut zu entwickeln. Wer über seine Angst zu reden vermag, bietet anderen die Möglichkeit, einem zu helfen, diesen Mut zu finden. Und wer Dich liebt, will Dir genau dabei helfen – und er oder sie wird dabei von Dir inspiriert.
    Ich weiss auch nicht, ob diese gewissen Ängste wirklich immer zu Dir gehören werden. Vielleicht werden sie wenigere oder schwächere, mit jeder guten Erfahrung, vielleicht ohne dass Du es gerade merkst.

    So viele Tops haben in ihrer Rolle einen tiefen Respekt vor dem Partner, der sich fesseln lässt – weil sie selbst die Angst, hilflos zu sein, fürchten. Ich glaube, wir Subs dürfen uns auch immer mal wieder bewusst machen, dass wir in den Augen von Vertrauten sehr viel grösser und stärker sind, als wir uns selbst sehen. Es ist gut, dass es uns gibt, und gut, dass wir uns ein Stück weit erklären können – um unsere Liebe tiefer zu empfinden – die gegebene und die empfangene.

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