Über Krankheiten und Medikamente

Vor 12 Jahren ging etwas wirklich schief. Im Sommer 2006 begann ein Teil meines Lebens aus den Fugen zu geraten, im Herbst verlor ich meine Stimme, nicht körperlich, aber seelisch verstummte und erstarrte ich, im Winter floh ich aus meiner Umgebung und fing mich erstmal. Leider war mir damals nicht klar, wie tief diese Erlebnisse gingen, und es brauchte eine ganze Zeit, bis ich in der Lage war, mir Hilfe zu suchen.

Am Ende standen da zwei Diagnosen: Depression und Borderline. Ersteres war sehr klar und deutlich, zweiteres war schwieriger. Von den 9 Kriterien erfüllte ich 5. Ich war also knapp an der Grenze, hatte auch so meine Probleme mit der Therapie in diesem Punkt. Mein Therapeut zog diese Diagnose nach einiger Zeit zurück, seitdem spreche ich von Tendenzen.

Mit diesen Diagnosen kamen die Medikamente und das war für mich genau richtig. Wir brauchten ein paar Monate, dann hatten wir die richtigen Medis und die richtige Dosis gefunden. Ich bekam ein Antidepressivum und ein Mood Stabilizer, sie verhinderten tiefere Abstürze und pufferten meine extremen Emotionen.

Ehrlicherweise muss ich sagen, ich weiß nicht mehr, wann ich die Medikamente bekommen habe. Ich selber habe keine Aufzeichnungen und möchte auch nicht für diesen Beitrag in die Schlangengrube meiner Erinnerungen (mein altes Email-Postfach) steigen. Ich habe sie viele Jahre genommen. Lange genug, dass Ärzte, die meine Geschichte nicht kannten, beim Blick auf meine grandiosen Leberwerte das Thema Alkoholismus anschnitten.

Letztes Jahr, nach der Prüfungsphase im Frühjahr, gingen sie mir aus. Meine Ärztin sitzt in Franken, ich habe hier in NRW tatsächlich noch immer keinen Facharzt, der mich kennt, und so dauerte es ein wenig, bis das Rezept bei mir ankam. Ich war auch in dieser Zeit schon etwas schludrig, und am Ende war ich knapp 3 Wochen ohne Medikamente. Und es ging mir gut. Ich wusste aus den Gesprächen mit meiner Ärztin, dass ich mittlerweile schon sehr niedrige Dosen nahm und man die damit auch ausschleichen könnte, aber wir hatten uns das eigentlich für die Zeit nach dem Studium überlegt. Nach diesen drei Wochen nahm ich meine Medikamente wieder, aber es blieb bei der Schludrigkeit, ich hatte das Gefühl, es ging auch ohne. Im Sommer redete ich mit meiner Ärztin darüber und wir kamen zu dem Schluss, dass ich mich nach meinem Bauchgefühl richten sollte, aber vielleicht mit Vorrat für alle Fälle. Ich war neugierig.

Ende des letzten Sommers holte mich die Depression ein. Es gab einen konkreten Auslöser und Themen, die mir einfach den Boden unter den Füßen wegzogen. Ich machte mich auf die Suche nach einem Therapeuten und hielt mit guten Gefühlen dagegen. Shibari, BDSM, Freunde, ich schürfte nach positiven Gefühlen und Input, bis diese Phase durchgestanden war. Es gab Rückschläge, neue Auslöser, aber es wurde besser, noch bevor ich einen Therapeuten fand. Ich nahm die Medikamente in dieser Zeit selten, ich wusste, dass der Spiegel im Blut nicht ausreicht, über so kurze Zeit nicht wirksam aufgebaut werden konnte. Dennoch halfen sie mir, wie in den schlechtesten Zeiten schon das Rezept in der Tasche ersten Halt bot. Als es mir besser ging, verzichtete ich wieder.

Ich bin also effektiv schon seit einigen Monaten ohne Medikamente unterwegs, für mich so richtig offiziell seit Jahresanfang 2019. Da habe ich beschlossen, dass eine medikamentenfreie Zeit beginnt und ich ganz bewusst verzichte.

Und ich fühle mich anders. Ich fühle wieder mehr, positiv wie negativ, und ich suche Strategien, um damit umzugehen. Ich fühle mich echter. Wie ohne Filter. Auf einmal sind da noch mehr Farben! Aber von außen betrachtet, überwiegt vermutlich das negative. Ich lerne, erkenne eigene Verhaltensmuster, versuche, sie zu verstehen und zu durchbrechen, wenn sie mir nicht gefallen. Das ist nicht einfach, auch nicht für die Menschen um mich herum.

Emotionen sind für mich eine Herausforderung und je näher man mir steht, desto schlechter kann ich vermeintlich damit umgehen: Ein Teil von mir möchte, ganz Borderline, alles von mir fernhalten, was mir emotional nahe kommt, jetzt wieder stärker als mit den Tabletten. Kein Risiko eingehen. Lieber forever alone, als fühlen und verlieren und in der Liebe verliert man immer irgendwann. Also nehme ich Abstand von allem, was ich zu sehr mag. Suche eher nach negativen Aspekten, hänge mich an Kleinigkeiten auf. Aber von wegen, diesen Kampf nehme ich auf.

Da sind noch immer Themen, die mich einknicken lassen. Von “Alles gut” zum Tränenausbruch in 3 Sekunden, und ich wünschte, ich würde übertreiben. Aber das tue ich nicht. Diese Themen sind schwierig, aber ich gehe sie an, versuche, ihnen ihre Macht über mich zu nehmen. Nachdem diese Themen nicht wirklich Teil meines Alltags sind, kann ich recht gut bestimmen, wann ich mich damit befassen kann. Das macht es ein ganzes Stück einfacher.

Jetzt denkt ihr vielleicht “Und bei den Nachteilen, warum genau nimmt sie die Pillen nicht wieder?” Gute Frage. Habe ich mir auch gestellt, mehrmals, sehr intensiv. Aber ich würde sie eher für meine Mitmenschen nehmen als für mich, gegen die Angst, Freunde zu vergraulen. Mein Bauchgefühl sagt aber Nein, und das sehr klar. Ich sehe selbst die hässlichen Gefühle als positiv, sie bereichern mein Spektrum. Ich würde nicht sagen, dass diese Tabletten mein Wesen verändert haben, aber sie haben manches abgeschwächt, was mich nun mit mehr Wucht trifft als vorher. Damit muss und werde ich klarkommen.

Und ganz ehrlich, es ist so ein unfassbarer Triumph, ohne diese Medis hier zu stehen, aufrecht und lebendig. Ich bin da. Ganz. Echt. Ich. Mit Stimmungsschwankungen und Ängsten. Trotzdem ich. Wieder da.

Daher bleibe ich dabei, ich versuche es ohne. Für den Fall, dass ich sie brauche, liegen sie bereit. Ich zögere da keine Sekunde, ich weiß, im schlimmsten Fall retten mir diese Dinger das Leben. Aber bis dahin wohnen sie in der Schublade.

4 Gedanken zu „Über Krankheiten und Medikamente“

  1. Liebe Tara,

    danke für Deine offenen Worte – ich bewundere Dich dafür, dass Du hier so offen damit umgehst. Manchmal finde ich es spannend wie ähnlich wir uns emotional sein scheinen. Ich wurde übrigens lange Zeit mit ähnlichen Tendenzen eingestuft bis mich ein Arzt auf das Thema Hochsensibilität brachte, damit kann ich mich deutlich mehr identifizieren.

    Ich hoffe sehr, dass Du Wege für den Umgang findest und wenn was ist… Du kennst das ja mit dem offenen Ohr und so <3

  2. Tara es freut mich zu lesen, wie mit beiden umgehst. Schön, wenn du ohne Tabletten auskommst ist es gzt. Deine Tapferkeit stärckt dein Selbstbewusstsein. Und nich etwas ganz Wichtiges, nicht nur in Jubelzeiten, slbderb auch wenn es mal so nicht läuft, es sind Freunde da. Schreib und werd alkes los, was bedrückt. Ich höre zu. Also Tara Kopf hoch und weiter so.

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